Herbert Nauderer: Die Kunst, das Begehren zu formen

 

Das Begehren und die Kunst haben ein vielfach ineinander verschlungenes Verhältnis. Es gibt das Begehren zur Kunst, als eineridealisierten höheren Daseinsform, aber auch die Kunst des Begehrens, die auf tausend Ebenen, im vitalen Untergrund am Werke ist, noch bevor überhaupt ein individualisiertes Leben oder ein spezifisches Werk im uns vertrauten Sinne der mündlichen oder schriftlichen Literatur, der Musik, Malerei, Skulptur oder Architektur auftaucht. Diese Formen der oft halbbewussten Lebenspraxis zwischen Trieb und Geist, der ersten Äußerungen und Einschreibungen von Leib, Seele und aufkeimender Vernunft könnte man als elementare mediale Techniken bezeichnen, als Protokünste. Einem Leib mit seinen Regungen einen Rahmen, einen Kanal, einen Code zu geben, heißt, ihm einen symbolischen Ort und ein reales Medium zu schenken - innerhalb dessen er sich, seine Existenz und seine Bewegung in eine bestimmte Form stellen, seinen Äußerungen allmählich eine Richtung verleihen kann, um so ein Verständnis von dem, was er in diesem Medium sein könnte, Schritt für Schritt, durch Anspannung zu erobern und zur plastischen Erscheinung zu bringen.

Herbert Nauderer thematisiert die Kunst des Begehrens in beeindruckend prägnanten Bild-Serien, den „oneironauten“ und den „endobionten“ , in einem zugleich zurückhaltenden und heftigen Sinne. Von Haus aus Musiker, Schlagzeuger, Percussionist hat Nauderer in früheren Arbeiten seriell und hochexpressiv gearbeitet: Mit linker und rechter Hand gezeichnet entstehen in kontinuierlicher Produktion, also ohne Unterbrechung fast endlos zu nennende, offene Serien mit Studien in intensiver Strichführung: improvisierte Figuren, Gesichter, Körper, die von der Energie der nervösen Linien, von einem Netz flimmernder Markierungen zugleich beschworen und wieder zertrommelt werden. Wild rhythmisierte Aufzeichnungen, in denen Objekte als dynamische Erscheinungen verlebendigt sind. Material, in großformatigen Tableaus wie mit einem großen Orchestertusch simultan präsentiert, oder in filmischen Montagen zur künstlerischen Animation eingesetzt und mit exotischer oder klassischer Musik, so Bachs „Goldberg-Variationen“, verbunden.

Die Verknüpfung von Musik und bildender Kunst, von zeitlichem Rhythmus und räumlicher Gestaltung, von Spontaneität und Kalkül, Improvisation und rituellem Rahmen ist eine intermediale Ebene der künstlerischen Produktion, die immer wieder neuen Akzentverschiebungen und Fokussierungen unterzogen werden kann. In den heftigen, scheinbar subjektiven Formen der Linienführung dominierte der musikalische Geist, die dionysische Kraft Nauderers über die apollinische Formwahrung der bildenden Kunst. Aber indem die Linien eingespeist wurden ins bildnerische Material einer „nachexpressionistischen“ Produktion zwischen Einzel-Abbildung und Gesamt-Partitur, ergab sich eine Lösung, die für den experimentierfreudigen und mutigen Künstler nicht das letzte sein konnte.

In den Serien „oneironauten“ und „endobionten“ verschärft Nauderer den Spannungsbogen zwischen apollinischer Bildgestaltung und dionysischem Musikimpuls und gibt dem Raum-Zeit-Gefüge eine andere Richtung: Er radikalisiert den Raum des Bildes, indem er ihn traumsprachlich entgrenzt, typisiert, abstrahiert und stilisiert, vor allem in einem mechanischen, möglichst ausdruckslosen, entindividualisierten Zeichnungsstil, in der Collage mit reproduzierten, am PC zurückhaltend bearbeiteten oder manipulierten Fotos mit filmischer oder privater Wirkung und in diversen unauffälligen Mischtechniken.

Nauderers jüngste Bildwelten präsentieren in ostentativer Normierung undSubjektlosigkeit sowie scheinbarer Freiheit von jeglicher Handschrift Objekte und Modelle von menschlichen Körpern wie Grundrisse oder Seitenansichten auf technischen Zeichnungen, isoliert oder miteinander sonderbar verkoppelt. Die Figuren erscheinen wie Ready-Mades, Vorformen einer neuen Bionik, in der organische und maschinenmäßige Komponenten zu einer faszinierenden Symbiose zusammenfinden und in ihren Funktionen oft wechselseitig ausgetauscht werden. Die Unvollständigkeit der Körper, der Einschnitt in Gesichter und Köpfe, die Segmentierung des Leibes, die Fusion der Organe entfernt sich vom klassischen Torso, dem künstlerischen Fragment oder der historischen Ruine, die das integre Ganze, den Tempel der Humanität träumen. Es geht darum, die Zeichnung, die Figuration des Leibes aus der Imagination eines klassischen Bildes heraus zu lösen und den Strapazen einer medial vernetzten Moderne zu unterwerfen. Die Figuren erweisen sich als Avatare, als Stellvertreter für den Zuschauer im virtuellen Raum, um ihn in den Bannkreis möglicher, leibhaft nachvollziehbarer Erlebnisse zu ziehen. Die Bandagierung der Figuren, ihre Ausstattung mit Protektoren, Hemmern und Verstärkern, ihre Zurüstung mit Ohrenschützern, Kopfhörern, Kanülen, Schrauben, Klemmen, Leitungen, Verdrahtungen, Netzen und Netzwerken erhöht ihre Fungibilität als musikalisches oder bildnerisches Instrument, macht sie zu kalkulierten Schnittstellen in Traum und Rausch, verdeutlicht um so mehr ihren drastischen Objektcharakter, stärkt aber auch ihre mediale Verwertbarkeit und ikonografische Einflussnahme, ihre hypnotische Kraft im unaufhörlichen ästhetischen Datenfluss. Nicht umsonst nennt Nauderer im Sinne eines nostalgischen medizinischen Ausdrucks von C. G. Enderlein aus dem Jahre 1915 und Retro-Science-Fictions-Wortes die Figuren „endobionten“: „Urkeime“, mikrologische parasitäre Wesen, noch unerkannte, unerforschte Bakterien, Viren oder Pilze, die zwischen Verpuppung und Entpuppung, Verschwinden, Sich-Einkapseln, Einstülpen, Nach-Innen-Wenden und sich wiederum Ver- und Entäußern angesiedelt sind. Aber in dem Entzug dieser Figuren durch ihre typografische, nostalgische Stilisierung und ihre pilotenförmige Zurüstung kommt den endobiontischen Ikonen die Erhabenheit von Aliens und Ufos in ihrer eigentümlichen Nicht-Identität und Andersheit an der Schaltstelle der Medien zu: In der Verhüllung des Gesichts, in der Blendung der Augen wird das bisher Sichtbare auch für den Bild-Betrachter beseitigt, in der Dämpfung der Ohren und der Fesselung oder Entfernung der gewöhnlich genutzten Gliedmaßen werden die dargestellten Figuren organischen Transplantationen und physischen Transformationen zwischen Mensch und Maschine unterworfen. Nauderer schickt seine Avatare auf eine Traumreise, zu oder auf der sie sich selbst verändern und auf die sie den Betrachter in aller Faszination entführen, um das Ineinander von Subjekt und Objekt, Miterlebender und Regisseur auszukosten. „Oneironauten“  sind Klar- und Wachträumer, die ein Bewusstsein davon haben, dass sie träumen und ihren Traum in gewisser Weise steuern können. Nur: Wie viel Bewusstsein verträgt sich mit der polymorphen Erregung in Traum und Rausch? Und: Wie viel Narkose verträgt sich mit Bewusstsein, ohne die Kontrolle zu einer reinen Illusion geraten zu lassen? Die Träumer und Geträumten gleichen wahlweise Piloten, die angeschlossen an utopische Maschinen und Medien die Reise gerade noch so steuern, oder sie sind Wissenschaftler und Konstrukteure, die ihre eigenen phantastischen Transport-Geräte und Umwelten bauen, umpolen oder destruieren, oder Mönchen und Schamanen, die in Meditation und Ekstase die auf sie eindringenden Visionen zu lenken und zu dosieren imstande sind.

Nauderers „oneironauten“ und seine „endobionten“  sind komplementäre Figuren, Gestalten der Fesselung und der Betäubung, des Rausches und der Entgrenzung, zwischen Konstanz und Wandel, zwischen Stillstand und Entrückung. Das Begehren in seinen gesamten Verästelungen von Lust und von Schmerz wird zu einem kompakten Objekt verschnürt, das jenseits der empirischen Welt mit ihren allzu gewöhnlichen Ansichten und Einteilungen zu einem postbiologischen Transformator unserer aktuellen Zukunftswünsche wird. Und die polymorphen Skulpturen Nauderers sind die plastisch gewordenen Schnittstellen für die verrückten Wünsche einer Zukunft, die längst auch unser Unbewusstes eingekreist hat.

Peter V. Brinkemper