„... inwendig voller Figur.“

 

Im Traum durchqueren wir im Bruchteil von Sekunden Kontinente oder schauen in unser Innerstes hinein. Wachträumer – Oneironauten – vermögen sich solches unbewusstes Geschehen in einer Art meditativer Versenkung bewusst steuernd vor Augen führen. Da kann dann bei Herbert Nauderer eine Spielzeugfigur den Kampf mit einem surreal anmutenden Affenschädel aufnehmen oder menschliche Gesichte(r) in einen Dialog mit gezeichneten Torsi eintreten. Wie aus dem off erscheint neben dem Porträtphoto eine Frau und zwei gezeichneten Hirschen das Wort „hirschmutter“ und lässt im Betrachter biographische Assoziationen aufsteigen.Beim Telephonieren haben wir alle schon irgendwelche Kritzeleien auf der Schreibunterlage gezeichnet. In der Tat ist der Zeichenstift mit dem Zauberstab von Shakespeares Prospero zu vergleichen, mit dem er die Geister rufen konnte. In ihrer aus Linien gefügten Abstraktion ist die Zeichnung real genug, damit wir uns ein Bild machen können, aber sie ist zugleich so abstrakt, damit wir das Lineament mit unserer Phantasie ausfüllen müssen. Die Zeichnung ist die älteste und direkteste Form von Kunstäußerung. Bereits Urmenschen haben mit Tierzeichnungen an der Höhlenwand das Jagdglück heraufbeschworen.Viele der Zeichnungen von Herbert Nauderer sind dialogisch aufgebaut. Eine dunkle, kaum merklich strukturierte Fläche antwortet auf eine helle, in der eine Zeichnung dominiert. Zwei Wesen reagieren wie aus zwei Hälften eines Spielfeldes aufeinander. Ein Kopf tastet sich mit tentakelartigen Fortsätzen in ein Gegenüber vor. Hier sucht die Zeichnung nicht in erster Linie den Kontakt mit dem Betrachter, sondern macht ihn zum Voyeur.Die spontan geformte Linie vermag in der Art eines Seismographen feinste Erschütterungen bis in das Innerste des Zeichners aufzuzeigen. Vielleicht ist die Zeichnung deshalb die einzige Möglichkeit, um so etwas wie die Seele abzubilden. Für Herbert Nauderer ist Zeichnen gleichbedeutend mit seiner menschlichen Existenz schlechthin: Delineo, ergo sum! Die Zeichnung lässt spontanes und direktes Agieren zu. Der Zeichner verarbeitet dabei auch seine Erfahrungen als Musiker. Wie der Percussionist zeichnet Nauderer oft mit beiden Händen, nimmt die Signale aus seinem Körper auf und verleiht ihnen auf dem Papier sichtbare Gestalt. Herbert Nauderer ist mit Albrecht Dürer „inwendig voller Figur“. Die Arbeit am Computer gibt ihm die Möglichkeit seinen Wachträumen sichtbare und haptische Gestalt zu verleihen und sie zugleich dem Blick wieder auf geheimnisvolle Weise zu entziehen. Gerne greift er auf einen im Laufe der Jahre für sich entwickelten Kanon von Formen zurück, schneidet sie aus und setzt sie in anderen Zeichnungen wieder ein, wo sie dann ein völlig neues „Leben“ führen. Nauderers Oneironauten sind eine Antwort auf die Sprachlosigkeit des Informell. Gezeichnete und photographierte Bilder werden zu Metaphern für eine unbekannte, alleine in der Vorstellung des Künstlers existierende Wirklichkeit. Figuren oder Teile davon, Köpfe mit merkwürdigen Hauben, und kunstvollen Bandagen, Augen mit eigenartigen dunklen Brillen und Ohren, die von sonderbaren Kopfhörern von der Umgebung abgeschottet sind, führen uns auf der Bühne des Computerbildschirms ein Stück auf, dessen Plot wir einerseits zu kennen glauben und dessen Sinn sich uns doch nicht auf den ersten Blick erschließt: Was ist real und was ist Bild? Ist es Poesie?

 

Erich Schneider