Memento mori

 

Wir kennen das: Als es noch richtige Telefone gab, saß man während eines längeren Gesprächs oft genug am Schreibtisch und hat beim Zuhören allerlei Zeichen auf die Unterlage gemalt. Manch einer kann sich nur konzentrieren, wenn er während des Nachdenkens solche Kritzeleien formt. Mal dienen sie der Vergegenwärtigung aufkeimender Ideen, mal sind es völlig freie Formen, die eher unbewusst entstehen. In jedem Fall sind es spontane, aus unserem Innersten aufsteigende Notate, die uns in die Feder fließen und auf dem Papier sichtbare Gestalt gewinnen.

Für Herbert Nauderer ist das Zeichnen, das Zeichen setzen, zur alltäglichen Übung geworden. „Nulla dies sine linea“ war bereits in der Antike ein Dictum künstlerischer Arbeit. Vieles in seinem Werk entsteht als das Ergebnis einer größeren Anstrengung über Tage und Wochen hinweg. Dann aber ist es als Aufgabenstellung zunächst abschlossen. Darüber hinaus aber gibt es jene, inzwischen auf über 800 angewachsene Gruppe kleiner Grafitzeichnungen, die Nauderer unter dem Titel „Rembrandt-Ballett“ zusammengefasst hat. Sie dienen nicht als Studien für eine größere Arbeit, sondern nehmen in seinem Oeuvre eine Sonderstellung ein. Gelegenheitszeichnungen, die dem Künstler in ruhigen Minuten aus der Hand fließen, sind sie nur auf den ersten Blick. Schon wegen ihrer großen Zahl sind sie weit mehr als so etwas wie „Pausen-Zeichen“ zwischen den einzelnen Werkkomplexen. Als gelernter Drucker und als aktiver Musiker weiß Nauderer um die Bedeutung der äußeren Form: Jeder Text hat so etwas wie einen Satzspiegel und jedes Schlagzeugsolo, und sei es noch so spontan, gehorcht einem Rhythmus. Gerade deshalb ist er sich bewusst, dass auch solche spontanen Notate, sollen sie in seinem Schaffen wirkmächtig werden, eine äußere Form benötigen. So hat er ihnen ein bestimmtes Maß gegeben und hält einen Vorrat entsprechender Papiere dafür bereit, die er mit dem stets gleichen Stift bearbeitet.

Warum Rembrandt? Kaum ein anderer Künstler dürfte sich in Gemälden, Zeichnungen oder Druckgrafiken so häufig selbst porträtiert haben, wie der Niederländer. Mehr als hundert Male soll Rembrandt sich selbst dargestellt haben. Manche sprechen sogar davon, dass seine Selbstbildnisse in der Summe so etwas wie eine „Selbstbiographie in sichtbar gestalteter Form“ (Wilhelm Pinder) bilden. Aber wer tritt uns da in Rembrandt Selbstbildnissen entgegen: Der Künstler, oder der, der er sein möchte? Gewiss, es ist immer die gleiche Person, aber stets in einer anderen Rolle, oder zumindest in einer anderen Inszenierung. Mit zunehmendem Alter dann, so scheint es, wird sein Blick auf sich selbst immer prüfender und ist der Künstler zunehmend bei sich selbst angelangt.

Seit Künstler das Selbstbildnis für sich entdeckt haben, genügt ihnen der bloße Blick in den Spiegel und dessen Wiedergabe im Bild selten. Albrecht Dürer hat sich im Jahr 1500 in seinem berühmten Münchner Selbstbildnis gar als Geschöpf Gottes, als dessen Ebenbild inszeniert. Peter Paul Rubens hat sich nie ausschließlich als Maler, sondern immer auch als wohlsituiertes Mitglied der bürgerlichen Oberschicht seiner Zeit vorgestellt. Fast scheint es, dass sich im Selbstbildnis des Künstlers das Selbstverständnis der jeweiligen Epoche spiegelt. Nur Rembrandt lässt den Betrachter seiner Selbstbildnisse, wie man sich ausdrückt, im Laufe der Jahre immer näher an sich heran. Vielleicht gerade deshalb haben sie sich als Ikonen der Porträtkunst in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt. Es genügt daher oft ein Detail - ein Blick, eine Haarpartie –, und wir fühlen uns an Rembrandt erinnert.

Indem sich Herbert Nauderer mit unterschiedlicher Intensität an Rembrandt reibt, stellt er die alte Frage, wer bin ich, immer wieder neu. Aber Nauderer versteckt sich nicht hinter dem Niederländer oder „verkleidet“ sich in seinen Zeichnungen als Rembrandt. Vielmehr hält er sich dessen Selbstbildnisse wie einen Spiegel vor, durch den er sein eigenes Selbst stets neu erkennt. Wir wissen längst, dass der Mensch durch die Summe seiner Erfahrungen und Emotionen geformt wird. So platt es klingen mag: In unseren Gesichtern gräbt das Leben seine tiefen Spuren. Deshalb muss sich ein Selbstbildnis trotzdem nicht mehr auf die Darstellung der Physiognomie beschränken, sondern bezieht in breiter Assoziationskette eben solche Erfahrungen und Emotionen ein.

Die Grenzen zwischen Selbstbildnis und Selbstreflexion sind fließend. Aber Herbert Nauderers Zyklus des Rembrandt-Ballett alleine auf den Aspekt des Selbstbildnisses reduzieren zu wollen, wäre zu kurz gegriffen. In dem Wort Ballett steckt auch die Vorstellung des Tanzes. Gerade im ausklingenden Mittelalter, einer von Katastrophen und Endzeitvisionen gepeinigten Epoche, wurde das menschliche Leben vielfach als eine Art Tanz verstanden, aus dem jeder jederzeit vom Tod herausgerissen werden kann. Die Vorstellung von der Endlichkeit des menschlichen Lebens war allgegenwärtig.

War es im Mittelalter der Totentanz, haben sich bis in die Gegenwart hinein viele Künstler in ihren Selbstporträts immer wieder mit einem Totengerippe dargestellt. Dieser Aspekt des von uns Menschen heute gerne verdrängten Memento mori schwingt für mich in Nauderers Zeichnungen in besonderer Weise mit. Wie in einem Totentanz tauchen vor unseren Augen Elemente und Versatzstücke als Erinnerungsbruchstücke eines Lebens auf, um im nächsten Bild wieder in die Tiefe der Wahrnehmung hinabzusinken. In jeder Zeichnung wird ein anderes Stück Leben herausgegriffen und an keiner Stelle des nie wirklich zu vollendenden Zyklus gibt es so etwas wie einen Masterplan. Das Leben als ein Reigen – auch das eine in der Kunst gerne gebrauchte Vorstellung – mit stets überraschenden Wendungen. Herbert Nauderer vergegenwärtigt sich in seinem oft während der Stille der Nacht entstandenen Zeichnungszyklus des Rembrandtballett sein Leben, das sich in der Summe der Zeichnungen am Ende irgendwann einmal zu so etwas wie einem Selbstbildnis verdichten wird.

 

Erich Schneider

 

 

Händescheidung

 

Bemerkungen zu Herbert Nauderers Rembrandt-Installation

 

1.

Es erinnern sich heute übrigens nicht viele mehr an jene Zeit, als Rembrandt für zahllose Deutsche eine Erlösergestalt war. Diese Geschichte begann ein Jahrzehnt vor der Wende zum 20. Jahrhundert mit einem Buch, das von einem selbst ernannten Nietzsche Schüler namens Langbehn verfasst wurde und den programmatischen Titel trug: „Rembrandt als Erzieher“. Julius Langbehn war ein Wirrkopf, doch keineswegs bedeutungslos. Er zählte zu den Meistern des hitzigen Raunens, wie sie in Deutschland zum Beginn oder zur Vorzeit des Faschismus so beliebt waren. Sein Verleger freute sich über hohe Verkaufszahlen, denn die Schriften erzielten sehr schnell mehrere Auflagen. Langbehn wurde bald Meister eines verschworenen Kreises, und manche seiner Anhänger zählten sich bereits glücklich, „zu seinem Umfeld zu gehören.“ Die Bewohner von Umfeldern sind Ritter der Konjunktur.

Rembrandt, schrieb Julius Langbehn in jenem Buch, sei die Verkörperung des gesunden Niederdeutschen, das Vorbild für die nach Innen gekehrte Art des nachdenklichen Deutschen. Rembrandt zu verehren bedeute eine Absage an alles Moderne, Vernünftelnde, Gleichmacherische.

 Die Botschaft wurde vernommen, der Mann der sich in der ersten Ausgabe statt mit seinem Namen anonym mit dem Hinweis: „Geschrieben von einem Deutschen“ als Autor begnügte, avancierte zu einem nationalen Deuter. So nahm ein Teil des deutschen Wirrsals seinen Lauf.

 

2.

Man kann, das lehrt uns auch diese kleine Geschichte, mit Rembrandt ziemlich viel anstellen. Legende ist die Zahl der Fälschungen, der Kopien, der zögerlichen und der emphatischen Zuschreibungen. Legende ist die Werkstatt und sind die Werkstätten der Werkstatt. Legende ist auch der Fleiß, welcher in die vielen Interpretationen geflossen ist. Rembrandt ist ein Künstler, an dessen Werk gleichzeitig und mit großer Geste Vivisektion, Multiplikation und Mystifikation betrieben wurden. Lange schon, bevor Walter Benjamin über das Problem der Reproduzierbarkeit von Kunstwerken grübelte und schrieb, war das von ihm beschriebene Phänomen Faktum geworden. „Der Mann mit dem Goldhelm“ inspirierte Grafiker, die für die Zigarrenindustrie arbeiteten, „Die Anatomie des Doktor Tulp“ entschied über akademische Hierarchien beim Öffnen von Leichen, Magistrate in den Niederlanden, doch auch über deren Grenzen hinaus, entwarfen und kämpften um ihre Selbstdarstellung nach dem Vorbild der „Nachtwache“. Nicht auszuschließen, dass die christlichen Hirten dieser Erde ihre Anbetung des HERRN seit dem 17. Jahrhundert überall nach einer strengen Links-Rechts-Komposition gestalten, selbstredend unter gebührender Beachtung der linksseitigen Anlaufspunkte.

 Aus der einschlägigen Literatur kennen wir Rembrandt als Unternehmer und als Liebhaber, als Dokumentaristen seiner eigenen Vergänglichkeit und als Chronisten des biblischen Geschehens. Seine Spiegelbilder sind uns so häufig begegnet, in der Schule und in Museen, in den Artefakten und den Katalogen renommierter Auktionshäuser, dass es nur eine Frage der Zeit ist, wann unsere Anthropologen die „Rembrandt-Vision“ als eine eigenständige Kategorie der menschlichen Wahrnehmung einführen und damit verflüchtigen werden.

 

3.

Sie haben, verehrte Leser, vorhin höflich geschwiegen, als ich den „Mann mit dem Goldhelm“ im direkten Zusammenhang mit den Werken des Meisters aus Rijn erwähnte. Das war rücksichtsvoll, wenn auch völlig überflüssig. Die Kunde von Zuschreibungen, von „wahr“ oder „falsch“ verbreitet sich heutzutage mit einer Geschwindigkeit, die jener des ominösen Börsentickers um keine Viertelsekunde nachsteht. Wir alle erfahren Bewegendes ziemlich schnell, gerade, wenn es um Werte geht, die sich in Zahlen ausdrücken lassen. Der geschäftsmäßige Handel mit Gemälden macht da keine Ausnahme, weder im Tempo, noch in der Präzision. Besonders flink eilt der Verdacht, dem auf den Grund gegangen werden will. Und das besorgt jene Kunst, besser ausgedrückt, jene Technik der Verifizierung, die auf Deutsch mit dem so wunderschönen, so einprägsamen Ausdruck „Händescheidung“ bezeichnet wird.

Experten haben seit geraumer Zeit auf vielfältige, von strengen wissenschaftlichen Verfahren unterstützte Weise herausgefunden, was die Hand des Meisters von den Händen der eingeweihten Schüler oder jener der bloßen Imitatoren unterscheidet. Altmodisch spricht man über den Einsatz von Röntgenaugen. Also ist, ich erzähle hier nichts neues, der „Goldhelm“ kein Werk, das irgendwann in der Mitte des 17. Jahrhunderts, mithin zwischen 1650 und 1655 von jenem Rembrandt van Rijn „mit eigener Hand“ auf die Leinwand gebracht wurde, es stamme, befanden die strengen Scheidenden, bestenfalls „aus seinem Umfeld“. Die Kunde wurde damals mit jener, dem Religiösen nahe wohnender Erschütterung aufgenommen, wie eine Meldung über die Verstrickung des örtlichen katholischen Schutzpatrons in einen Immobilienskandal.

 

4.

Die Person Rembrandt ist mittlerweile in so viele Details, in so viele Fragmente aufgesplittert worden wie die Reliquien eines mittelalterlichen Heiligen – und dessen Aura gleich dazu. Sie wurden aufgehoben, in des Wortes vielfältiger Bedeutung. Ob es Rembrandt je gegeben hat, kann man daher füglich in Frage stellen. Vermutlich nicht. Besser spricht man von einer Erfindung.

Dieser Gedanke führt uns zielsicher zu der hier vorgestellten Installation von Herbert Nauderer, zum Rembrandt-Ballett. Die Installation zitiert zwei Kunstformen, das Zeichnen und den von der Musik getragenen, den pantomimischen Tanz. Auch hier spielt Nauderer mit den Epochen, er hat als Komponisten Johann Sebastian Bach und Scriabin ausgewählt, zwei Musiker, deren Wirken, deren Bedeutung erst nach dem Tod des Meisters von Rjin zum Tragen kamen. Und auch die Kunstform des Balletts entfaltete erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts ihre volle Pracht. Ob Rembrandt je glücklich getanzt hat, ist eines der wenigen noch unerforschten Probleme der historischen Forschung. Naturgemäß hätten wir es dem Künstler gewünscht.

Das Wort „Ballett“ weist über das provenzalische „balar“, mithin über den Tanz aber auch noch auf eine weitere Kunstform: die Ballade. Balladen waren, lange bevor die Romantik ihre poetische Gestalt beschlagnahmte, Gedichte, die während des Tanzes von einem anrührenden Ereignis berichteten. Es waren kurze,  Versfolgen, wenn man so will, gereimte Merksprüche, Kommentare, Erläuterungen. Zu den schon damals „klassischen“ Heldenepen verhielten sie sich, der notwendige Vergleich sei hier gestattet, wie die Zeichnung zum Ölbild: die Ballade bewahrte den Kern einer Aussage – und da sie im Tanz, in einem Zustand heiter sinnlicher Erregung vorgebracht wurde, war auf eine feste, eine gleich bleibende Form dieser Aussage selbstredend nie Verlass. Gerade darin lag ihr Reiz, lag ihre Überraschung.

 

5.

Herbert Nauderer spielt mit diesen Formen. Er ist schließlich nicht nur ein pintor doctus, der sich auf Traditionen versteht, er ist auch ein pintor ludens, ein Künstler, der begriffen hat, wie Spiel und Zauber in der Kunst zu einander finden, wenn sie uns ein Neues erzählen, ein Neues, das wir aufheben wollen. Für den dankbaren Betrachter ist er ein Meister der ungeschiedenen Hände. Und dennoch: keine Spur von Wirrsal.

 

Tilman Spengler, Juli 2010