Das Haus des Erfinders 

Nichts ist wie erhofft 


Aus den letzten Sätzen im Logbuch sprechen Panik und Todesangst. „Nichts ist wie erhofft. ... Von 15 Mann sind noch sechs am Leben. Keinerlei Verbindung zur Außenwelt. Wir haben alles verloren. ... Wir müssen aufbrechen ...“ Und vielleicht noch deutlicher als die schriftlichen Notizen künden die Zeichnungen mit den entstellten Gesichtern der Kameraden von den haarsträubenden Vorgängen auf Parasite Island.

Was war geschehen? Wie konnte es so weit kommen? Von was zeugen die überlieferten Seiten des Berichts? Von welchen Geheimnissen handeln die Eintragungen und Bilder? Welche beunruhigenden Wahrheiten verbergen sich hinter diesen Aufzeichnungen? 

Vieles bleibt im Vagen, anderes wiederum lässt sich klar und eindeutig aus den Worten, Fotografien und Zeichnungen entnehmen. Es geht zunächst um eine sorgfältig vorbereitete Expedition, um eine Reise zu einer geheimnisvollen Insel, nahe dem südlichen Polarkreis. Aufgebrochen war die Mannschaft, so entnehmen wir dem Tagebuch des Funkers, am 19. November 1958 mit einem hochseebewährten U-Boot. Die Fahrt durch den Atlantischen Ozean muss beschwerlich gewesen sein, es gab wiederholt Probleme mit der Maschine und dem Ruder. Auch die Landung auf der Insel, die weiter nördlich lag als vermutet, gestaltete sich nicht unproblematisch. Im Dunkeln bleiben bis zuletzt der eigentliche Anlass und der Auftraggeber des aufwendigen und, wie sich herausstellen wird, waghalsigen Unternehmens. Aber allein das für eine solche Expedition völlig untypische Gefährt sowie die Uniform des Maschinisten auf einem Foto und die Erwähnung einer in jenen Tagen in Agentenkreisen sehr beliebten kleinen Minox-Kamera lassen auf eine staatlich sanktionierte geheime Mission schließen. 

Handelt es sich, so ist man möglicherweise angesichts der Zeitumstände geneigt zu vermuten, um die Neuauflage einer Expedition des Deutschen Reichs in die Antarktis kurz vor dem Zweiten Weltkrieg? Schon öfter war hier und da vermutet worden, dass der angeblich rein wissenschaftliche Zweck dieses Unternehmens nur vorgeschoben und sein eigentliches Ziel ein militärisches gewesen sei. Demnach ging es bei der „Operation Neu-Schwabenland“ in Wirklichkeit von Anfang an nur darum, in dieser unwirtlichen Gegend einen Außenposten, einen Stütz- und Fluchtpunkt zu etablieren. Dorthin oder auf eine bis dato unbekannte Insel in der Region hätten sich schließlich, nach dem Ende des Deutschen Reichs, mehrere hochrangige Nationalsozialisten und NS-Eliteverbände mit neuartigen Flugmaschinen abgesetzt. Rührt das merkwürdige Pfeifen, von dem im Logbuch wiederholt die Rede ist, vielleicht von jenen sagenhaften, mit einem ganz neuartigen Repulsionsmotor ausgestatteten Reichsflugscheiben her? Was ist dran an den Berichten, wonach ein amerikanisches Militärmanöver um die Jahreswende 1946/1947, die „Operation Highjump“, an dem neben 33 Flugzeugen und 13 Schiffen auch 4.700 Soldaten beteiligt waren, allein der Zerschlagung der letzten Nazifestung im Eis gegolten habe, nachdem kurz zuvor eine Offensive der Briten unter dem Decknamen „Tabarin“ an diesem Ziel gescheitert sei? Waren die drei Atombomben, die die USA 1958 im Rahmen der „Operation Argus“ in der südlichen Hemisphäre zündeten, die Ultima Ratio, der letzte verzweifelte Versuch, die verbliebenen Widerstandsnester Nazi-Deutschlands im ewigen Eis zu vernichten?

Oder sucht die Crew des U-Boots, das sich kurz nach dem Abwurf der drei Bomben aufmacht, in der Person des „Erfinders“ vielleicht niemand anderen als den spurlos verschwundenen Dr. Dr. Josef Mengele, alias Fritz Hollmann, Helmut Gregor, Peter Hochbichler, Wolfgang Gerhard? Ging es um jenes gebildete und sich stets kultiviert gebende menschliche Monster, das Hundertausende in den Tod schickte, dabei Opernarien pfiff und für seine „Zwillingsforschungen“ blaue Augen sammelte? Um den Mann, der sich durch seine grausamen und skrupellosen Menschenversuche in Auschwitz einen Namen in der Welt als „Todesengel“ gemacht hatte, der nach dem Krieg fliehen konnte und zu einer Art Fliegendem Holländer der Nachkriegszeit wurde? Setzte dieser „Wissenschaftler“, dem es mithilfe seines schier unerschöpflichen, in der Schweiz verwalteten Vermögens aus Familienbesitz und der Unterstützung von interessierten „Freunden“ gelang, all seine Spuren zu verwischen, möglicherweise in einem abgelegenen Winkel der Welt seine Experimente an Tier und Mensch fort?

Von wolfsähnlichen Gestalten, von bärtigen Mischwesen aus Katze und Hund weiß das Logbuch zu berichten. Von dem unheimlich klingenden Geschrei dieser Mutanten. Von den Schwierigkeiten, Kontakt mit den verschüchterten Bewohnern der Insel aufzunehmen. Von ihrer fremden, unverständlichen Sprache. Aber auch von einer sich rasch verändernden, nahezu tropischen Fauna, einer Vegetation, die eigentlich so nahe am Südpol überhaupt nicht möglich sein sollte. Uns wird von versteckten Hütten mit verdorbenem Proviant berichtet, von verwaisten Unterschlüpfen, die auf eine frühere Expedition schließen lassen, deren verschollene Teilnehmer hier Depots für ihren Rückweg angelegt hatten. Wir sehen verfallene Villen und große, fabrikähnliche Gebäude. Aber wir spüren auch etwas von der Genugtuung, als die Gefährten schließlich das gesuchte Haus des „Erfinders“ entdecken. Der Eintrag vom 10. Dezember 1958 lautet: „Stenströms Beschreibung paßt genau. Es existiert also wirklich.“

Nach anfänglichen Schwierigkeiten und weiteren verstörenden Begegnungen mit seltsamen Kreaturen gelingt es den zunächst noch sehr zuversichtlichen, dann jedoch zunehmend verunsicherten Expeditionsteilnehmern, über den Sekretär des Erfinders eine Verbindung zu der übermächtigen, alles beherrschenden Figur der Insel herzustellen. Dass sie zu dieser Zeit bereits Gefangene im eigenen Lager sind, ist ihnen noch nicht bewusst. Doch täglich neue, beunruhigende Einblicke in das Geschehen rund um das Hauptquartier und die Beobachtung von dubiosen, Unheil verkündenden Experimenten auf dem Areal steigern allmählich ihre Beklemmung und Furcht. Obwohl das meiste einem immer komplizierter werdenden Verwirrspiel gleicht und nichts wirklich eindeutig zu erkennen ist, zweifelt bald keiner der Teilnehmer mehr daran, dass sich alle in größter Gefahr befinden und um Leib und Leben fürchten müssen. 

Kurz nachdem die mittlerweile bereits stark reduzierte Truppe entdecken muss, dass in verschiedenen Versuchsstationen unbekannte menschliche Lebensformen gezüchtet werden, begegnen ihre Mitglieder zwei ihrer verloren geglaubten Kameraden wieder. Sie erkennen sie an ihrer Kleidung, denn die schrecklich entstellten Köpfe von Dietrichsen und Björklund bestehen jetzt nur noch aus einer amorphen Masse und haben keine Ähnlichkeit mit menschlichen Gesichtern mehr. Dort, wo früher Nase, Augen und Mund waren, sind tiefe, höhlenähnliche Öffnungen in  Haut und Fleisch zu sehen. 


Nun ist nichts in der Welt so sonderbar, dass es nicht auch wahr sein könnte. Nicht selten haben wir deshalb Schwierigkeiten zu beurteilen, ob ein Bericht auf Tatsachen beruht oder dem Fieberwahn eines Einzelnen entsprungen ist. Ja, man könnte aus Erfahrung leicht versucht sein zu behaupten, die spannenden Reisen fänden sowieso vor allem im Kopf statt. Wie jene des Arthur Gordon Pym, die Edgar Allan Poe derart glaubwürdig schilderte, dass viele Zeitgenossen das meiste für bare Münze nahmen, was wiederum Absicht des Dichters war und ihn sehr freute. Was also ist der wahre Kern der von Herbert Nauderer geschilderten Expedition? Gibt es ihn überhaupt oder handelt es sich allein um eine Reise in die eigene Seelenlandschaft des Autors, eine Reise zu den Abgründen und zu den Sammelplätzen alles Unerwünschten, Verdrängten, Abwegigen? Keine Frage, das, was uns vorgelegt wird, ist verblüffend suggestiv und anziehend, etwas, das unsere Aufmerksamkeit voll und ganz zu binden vermag. Und doch geschieht das Entscheidende schließlich tief in unserem Innern, in unserem vitalen und emotionalen Zentrum. Wir müssen uns deshalb selbst fragen, was es mit unserem Interesse an dem geheimnisumwobenen Erfinder, an seiner perversen, gespaltenen Persönlichkeit letztlich auf sich hat und warum wir das Spiel mit verschiedenen Masken so sehr lieben. Sind also das Unbehagen, das mancher Betrachter angesichts der Zeichnungen empfindet, und die durch Texte und Bilder geweckte Angstlust vor allem ein Spiegelbild der eigenen Verfasstheit?

Zwischen Bewunderung und Verwunderung, zwischen Staunen und Zweifel hin- und hergerissen, versuchen wir uns zu orientieren. Dabei kann es passieren, dass, wie bei einem Vexierbild, das Gesamte kippt. Dann gibt sich das Logbuch plötzlich als etwas völlig anderes zu erkennen, ist vielleicht eher ein schönes, unterhaltsames Beispiel abgründigen Humors oder erscheint wie ein Drehbuch für eine schwarze Komödie, erfunden für Freunde der abenteuerlichen Kunst und des gepflegten Horrors. Denn es kann doch kein Zufall sein, so meinen wir auf einmal zu sehen, dass das Echo von Parasite Island wie Paradise Island klingt und sich das Wort Island für uns wie I-Land, also Ich-Land, anhört. Treibt Nauderer mit klammheimlicher Freude ein absurdes Spiel mit uns? Geht es ihm darum, mit Witz und Esprit dem Geist der Schwere eine Falle zu stellen? Hier werden ja nicht nur unheimliche Kreaturen beschrieben, sondern es ist ganz nebenbei auch von mädchenhaften, also schönen, neuen Lebensformen die Rede. Es werden attraktive Krankenschwestern mit Tiermasken erwähnt und gezeigt. Und das maskenhafte Signet des sich so martialisch und geheimnisvoll gebenden Erfinders legt bei näherer Betrachtung auch eher eine humoristische als eine tiefschürfende Deutung der gesamten Geschichte nahe. Wieder einmal ist also nichts, wie es zunächst scheint. Wahrscheinlich liegen die Hölle und das Paradies tatsächlich auf ein und demselben Eiland.


Vielleicht sollten wir das Logbuch des Künstlers Herbert Nauderer wie einen doppelseitig zu tragenden Mantel ansehen. Einerseits ist es eine Fundgrube für alle möglichen dunklen und hellen Vorstellungen, Illusionen und Fantasien. Andererseits vermittelt es sehr eindringlich und vielleicht sogar in erster Linie die Intention und den Weg eines Künstlers. Indem Nauderer sich die Freiheit nimmt, seine Faszination für Ambiguitäten und Ambivalenzen zu thematisieren und sie mit vielfältigen Irritationen zu würzen, indem er virtuos zwischen Fiktion und Realität springt, Realität fiktionalisiert und Fiktion realisiert, sich zwischen Fantasie und Wirklichkeit reibt und diese Reibung zur ästhetischen Quelle seiner Bilder und ihrer subjektiven Wirkung werden lässt , indem er sich mit Lust und gezielt zwischen alle Stühle setzt, verleiht er vor allem seinem künstlerischen Selbstverständnis Ausdruck. Für ihn ist Kunst offenbar nicht nur eine Sache von mehr oder weniger überzeugend vorgetragenen Behauptungen. Seine Kunst eröffnet Perspektiven und vermittelt, wie man sich zu etwas verhalten kann.


Wie auch immer man diese Bilder und Notizen letztlich ansehen und deuten mag, es zeigt sich wieder einmal, dass nur das wirklich Bedeutung erlangen kann, worüber wir in Bild und Schrift Zeugnis ablegt haben. In der Kunst, so sagt man, gehe es darum, etwas Unvordenkliches zu (er)finden. „Die einzige Möglichkeit der Erfindung aber“, so Derrida, „ist die Erfindung des Unmöglichen“.

Andreas Bee