Parasite Island - Mausmannsland

 

Rätselhaft erscheint die Existenz des Mausmanns. Ein Mensch, der tierische Züge trägt, ein soziales Wesen, das zugleich isoliert in einer eigenen Welt zu leben scheint, anwesend und auch abwesend, ein erwachsener Mann, und zugleich ein unbeholfenes Kind. Nicht greifbar entzieht er sich jedem Versuch, ihn näher zu bestimmen oder zu fassen zu bekommen. Unvermittelt taucht er in den unterschiedlichsten Kontexten auf, mal groß, dann wieder ganz klein, mal in bildfüllender Präsenz, dann wieder nur als Schatten auf der Wand. Er trägt eine schwarze Unterhose, dann wieder sieht man ihn im Sonntagsanzug an der gedeckten Tafel, auf alten Familienbildern ebenso wie in verlassenen Architekturen, die nur noch Spuren des Lebens enthalten, das einstmals in ihnen stattgefunden hat. Wer aber ist dieses eigentümliche Wesen? Woher kommt es? Und warum eigentlich sieht es aus, wie es aussieht?

In seinem Film „parasite island – mausmannsland“ geht Herbert Nauderer der Herkunft des Mausmanns auf den Grund. Und dringt dabei tief vor in die menschliche Psyche, in soziale Verwerfungen und familiäre Abgründe. Er stellt uns das düstere Zuhause des Mausmanns vor, in dem dessen Eltern, so darf man vermuten, dargestellt von Sibylle Canonica und Josef Bierbichler, am Essenstisch ihre ehelichen Konflikte austragen – und dabei doch nur mit sich selbst beschäftigt sind, während im Nebenraum das Kind mit einem dicken Seil ans Bett gefesselt stumm für sich selbst lebt, bis es schließlich in einem seltenen Moment der Auflehnung seine Mutter erschlägt, durch deren Tod es sein menschliches Antlitz zurückerhält. So in etwa ließe sich die Handlung dieses Kurzfilms von 15 Minuten Länge zusammenfassen. Doch tatsächlich gibt es gar keine zusammenfassbare, fortschreitende Handlung. Vielmehr werden verschiedene erzählerische Motive zu einem atmosphärisch dichten, unheilvollen, beklemmenden Familienbild von hoher suggestiver Kraft zusammengefügt. So ist der Film durchzogen von Brüchen, die den Ablauf der Erzählung stören und die sich vielfach als Erinnerungen oder Projektionen der Handelnden verstehen lassen. Die Erzählung bleibt im Vagen und wird mehr durch Andeutungen getragen als durch explizite Ausführungen. Im Filmischen greift Nauderer somit eines der wesentlichen Charakteristika seiner Zeichnungen und Fotografien auf, die sich mit ihren eindringlichen atmosphärischen Werten eher dem emotionalen Erleben öffnen als dem analytischen Durchdringen – wenngleich sie, wie auch der Film, durch ihre oft traumartig anmutenden Szenerien und Arrangements, durch ihre unwirklichen Auflösungen und Mutationen von Körpern, Formen und Gegenständen unserer gewohnten Wahrnehmung etwas entgegensetzen, das gerade auch dazu einladen mag, analytisch seziert und gedeutet zu werden. Doch gerät ein solches Vorgehen, der Versuch also, die Phänomene sprachlich zu bannen, rasch an seine Grenzen und lässt sich nur für einzelne Motive überzeugend durchführen, nicht aber für ganze Zyklen von Zeichnungen und Fotografien und eben auch nicht für den Film „parasite island“. Wie die Existenz des Mausmanns selbst, so bleibt auch die ästhetische Sprache, mit der sich Herbert Nauderer dessen Leben nähert, rätselhaft und vage und entzieht sich damit bewusst einem vereinnahmenden sprachlichen Zugriff.

Nun also hat Nauderer diese ästhetische Sprache erstmals in einen mit höchstem professionellen Aufwand im Studio produzierten kurzen Spielfilm übertragen. Was aber erfahren wir darin über die Herkunft des Mausmanns? Die wenigen Requisiten, mit denen die Akteure interagieren, sind von einer Einfachheit, die auf ein ärmliches Elternhaus schließen lässt, wenngleich die Aussagen des Vaters auch andere Vermutungen erlauben. Jede näher bestimmbare Räumlichkeit aber ist im Schwarz des Hintergrunds aufgehoben, diese Geschichte spielt irgendwo, sie ist in gewisser Weise ortlos und gewinnt auch dadurch ihre besondere Eindrücklichkeit. Der Mausmann entstammt offenbar keinem bürgerlichen Umfeld, sondern einem einfachen, in dem die Sprache direkt und der Umgang rau ist. Dort sitzen sich eine Frau, die überdimensionierte Ohren hat, und ein Mann, der überdimensionierte Kopfhörer trägt, die aber offenkundig, da sie kein Anschlusskabel besitzen, nicht zum Hören von Musik gedacht sind und eher die Ohren verschließen als ihnen Klänge zugänglich zu machen, an einem Tisch gegenüber und löffeln Suppe aus tiefen Tellern. Oder was ist diese wabernde Flüssigkeit, die in den Tellern ein Eigenleben zu führen scheint? Eine undifferenzierte, ohne jede Schattierung gestaltete schwarze Fläche, die uns in vergleichbarer Form bereits aus den Fotografien Nauderers bekannt ist und die verschiedene, vom Kontext abhängige Assoziationen erlaubt. Hier wie dort wurde sie nachträglich in die Bilder hinein gezeichnet und bricht dadurch die Einheitlichkeit der Darstellung. Als Flüssigkeit kann sie als Blut oder als etwas zu essen erkannt werden, sie quillt durch Ritzen und rinnt aus Mündern, sie kann als Ausscheidung des menschlichen Körpers erscheinen, aber auch als dessen natürliche Verlängerung oder Verbindung mit anderen Menschen und Objekten. Wenngleich sie Gegenstand der Erzählung sein kann, so fügt sie ihr in ihrer Eigenständigkeit doch zugleich eine neue Ebene hinzu, etwas Unaussprechliches, Geheimnisvolles. Diese Flüssigkeit nun essen der Mann und die Frau am Tisch, während sie zueinander sprechen. Dabei entsteht keine Unterhaltung, Diskontinuitäten bestimmen den Verlauf. Aus dem Gesagten erwächst Streit, es geht um eine anstehende Renovierung, um das gesellschaftliche Fehlverhalten eines anderen, um die Schmackhaftigkeit des Essens und auch um das Kind, den Mausmann, bis sich das Gespräch schließlich im rasanten Hin und Her und sich Überlagern von Sprachfetzen zur absurd anmutenden, narzisstischen Kakophonie des Missverstehens, des aneinander Vorbeiredens und der vollkommenen Ignoranz gegenüber dem vom jeweils anderen Gesagten auswächst. Und der Mausmann? Ist gar kein Kind, sondern besitzt den Körper eines Mannes. Er sitzt im Nebenzimmer auf der schäbigen Matratze seines metallenen Betts, erträgt, sich anscheinend seinem Schicksal ergebend, die grobe Fesselung, die er mit Leichtigkeit, da seine Hände nicht gebunden sind, lösen könnte und schlürft, da ihm kein Löffel zur Verfügung steht, mit seinem Mäusekopf unbeholfen die Flüssigkeit direkt aus dem Teller, den er schließlich, offenbar zum wiederholten Male, auf dem Boden zerschmettert. Was seine Mutter, die das bemerkt, nachdem sie ihn gerade ihrer Zuneigung versicherte, sogleich wieder ärgerlich macht, worauf die harten Schläge des Vaters folgen. Die Liebe der Eltern für den Mausmann scheint an die Erfüllung von Erwartungen gebunden. In seinem Zuhause herrscht eine bedrückende Atmosphäre des Alleinseins und der Bedrohlichkeit, der unterschwelligen und offenen Aggression, der Trostlosigkeit, des sich Belauerns und Verachtens, der Heuchelei und falschen Versprechungen. Wer so als Gefangener seiner Eltern aufwächst, wird immer ein Fremder unter den Menschen bleiben müssen. Oder halten die Eltern den Mausmann gefangen, weil er schon immer anders war als die anderen und weil das Unbekannte, das vom Normalen Abweichende versteckt werden muss? Auch auf Nauderers Fotografien bleibt der Mausmann ein Zaungast, ein außenstehender Beobachter des Lebens der anderen, der selbst wenn er sich direkt unter anderen befindet, nicht beachtet wird. Und er taucht an Orten auf, die von diesen anderen bereits schon wieder verlassen wurden. Der Mausmann als ein stets zu spät Gekommener, allein Gelassener. Oder sind die Fotos womöglich nur Projektionen der Sehnsucht des Mausmanns nach der Gesellschaft von anderen Menschen und hat er sich in Wahrheit nie aus seiner Gefangenschaft befreien können? Und ist er überhaupt ein Gefangener seiner Eltern oder seiner selbst?

Herbert Nauderers Film „parasite island“ zeichnet ein düsteres Bild familiären Zusammenlebens. Das Werk lädt mit seiner rätselhaften Vielschichtigkeit, dem oft krassen Auseinanderfallen von Sprache und Verhalten, mit seinen surrealen Elementen und seiner von Brüchen durchzogenen Form der Erzählung zu einer psychologisierenden Deutung ein, die menschliche Konflikte thematisiert, gestörte Kommunikation und Sprachlosigkeit, das Verhältnis von Eltern und Kind, von Gesellschaft und Außenseiter. Doch geht es Nauderer natürlich nicht um die Darstellung konkreter Individuen, vielmehr weisen die Figuren über sich hinaus. Vor allem aber ist Nauderers rätselhafte Bildwelt, die nur andeutet, offen für die Projektionen des Betrachters, die ihn auch auf sich selbst zurückwerfen. Es zeichnet Nauderers filmische Arbeit aus, dass er das Verweigern von Eindeutigkeit, die Offenheit der Erzählung aus seinen Zeichnungen und Fotografien in das Medium des Films übertragen hat. Nauderer suggeriert Stimmungen, er erzeugt Unbehagen, indem er mit unseren Erwartungen und konditionierten Reaktionen auf bestimmte Bilder und Abläufe spielt. So folgen wir zwar einer Erzählung, doch immer wieder, kurz bevor sich Klarheit einstellt, bevor sich einzelne Stränge vermeintlich zu einem größeren Zusammenhang fügen, biegt die Erzählung ab, erscheinen Bilder und werden Worte gesprochen, die die Vollendung einer konstruierten, in sich stimmigen Geschichte verweigern. So lässt „parasite island“ uns zwar tief in das menschliche Seelenleben blicken. Die Existenz des Mausmanns aber ist so rätselhaft geblieben wie sie immer schon war. So rätselhaft wie wir selbst uns oft sind.

Rasmus Kleine (Kallmann-Museum), Ismaning
 

„Herbert Nauderer ist ein Meister in der Kunst, das Abgründige surreal zuzuspitzen, sein Film ist eine durch virtuose Hand den Herzschlag bewegende Geschichte“, schrieb dazu Tilman Spengler, „manche Betrachter werden sofort ‚Kafka’ rufen, doch das sind Zeitgenossen, die eine Maus nicht von einem Käfer unterscheiden können.“

Tilman Spengler

PARASITE ISLAND – MOUSEMAN'S LAND
 
 
The existence of the Mouseman appears rather mysterious. A human being with animal features, a social being that seems to live in his own world, in isolation, both present and absent, a grown man and yet simultaneously an awkward child. Intangible, he evades every attempt to define him more closely, or to grasp hold of him at all. He appears suddenly, in a wide range of contexts, sometimes quite large and then very small, at times a presence filling the image, then merely as a shadow on the wall. He wears black underpants and then, again, we see him wearing his Sunday suit, sitting at a table set for a meal; on old family photos as well as in abandoned architecture, which retains only faint traces of the life that was once lived there. But who is this strange being? Where does he come from? And why, indeed, does he look the way he does?
 
In his film “parasite island – mausmannsland” Herbert Nauderer gets to the bottom of the Mouseman's origins. And in the process, he drills deep into the human psyche, into faults in society and rifts in family life. He introduces us to the Mouseman's dismal home, in which his parents – or at least we may suppose that is who they are – represented by Sibylle Canonica and Josef Bierbichler work through their marital conflicts at the dinner table. This means they are only bothered with themselves, whilst the child is tied to the bed by thick rope, living a dumb and isolated existence in the next room. Until finally, in a brief moment of rebellion, it kills its mother, her death restoring a human face to the child. This, roughly, is how the action of this short, 13-minute film could be summed up. But actually, there is no progressive action to sum up at all. Instead, various narrative motifs are brought together to create an atmospherically dense, ominous, oppressive pictue of family with great suggestive force. And so the film is permeated by breaks, which interrupt the course of the narrative and can be understood in many cases as the protagonists' memories or projections. The story remains vague, carried by suggestions rather than any explicit realization of action. In the film medium, therefore, Nauderer re-adopts one of the essential characteristics of his drawings and photographs, which are more open to emotional experience than to analytical reception with their compelling atmospheric values – although like the film, they contravene our customary perceptions with their often dreamlike scenarios and arrangements, their unreal dissolution and mutations of bodies, forms and objects: all this may seem like a direct invitation to dissect and interpret them analytically. But such an approach, i.e., attempting to capture the phenomena in any linguistic way, quickly reaches its limits and can only be realized convincingly for individual motifs and not for full cycles of drawings and photos, and not for the film “parasite island”, either. Like the very existence of the Mouseman, the aesthetic language Herbert Nauderer uses to examine his life remains mysterious and vague, so avoiding our invasive grasp.
 
Now, therefore, for the first time Nauderer has transferred this aesthetic language to a short feature film produced highly professionally in the studio. But what do we discover about the origins of the Mouseman here? The few properties handled by the actors are so basic that we can assume his parents' home is poor, although his father's statements might also permit different assumptions. Every space that could be defined more closely is lost in the black of the background; however, this story takes place somewhere or other, in a certain sense it is placeless and that comprises its particular, striking quality. Obviously, the Mouseman does not come from a bourgeois environment but a simple one, where language is direct and people interact roughly. There, a woman with outsized ears and a man wearing outsized headphones – which, however, as they have no connecting wires, are obviously not intended for listening to music but for blocking his hearing – are sitting opposite each other at a table, eating soup – or what is this sloshing liquid in the dishes, which seems to have a life of its own? A black, undifferentiated surface drawn without hatching, which we are familiar with already in a comparable form from Nauderer's photos, allowing different associations depending on the context. Here, and in the photos it was drawn into the images in retrospect and therefore breaks with the uniform quality of the depiction. As a liquid it can be identified as blood or as something to eat, it spills through gaps and runs from mouths, it may appear as a secretion of the human body but also as a natural extension of the body or a connecting link to other human beings or objects. Although it may be the object of the story, its independence means it can introduce a new level, both unspeakable and mysterious. Now, the man and the woman at the table consume this liquid while they are talking to each other. But no conversation emerges, and instead the course of the exchange is defined by discontinuities. Conflict develops from what is said, it is about decorating work that is due, about another person's business misconduct, the taste of the food, and also the child – the Mouseman –, until the exchange finally escalates in the rapid back and forth and overlap of linguistic scraps into a seemingly absurd, narcissistic cacophony of misunderstanding, talking over each other, and complete ignorance of one's opposite number.
 
And the Mouseman? Is not a child at all; he has the body of a man. He lives in the next room on the shabby matress of his metal-frame bed and tolerates – apparently succumbing to his fate – the rough bonds that he could easily undo, since his hands are not actually tied. Awkwardly, as he has no spoon, he slurps the liquid directly from the plate with his mouse-head. Finally, and obviously not for the first time, he smashes the plate on the floor. This immediately angers his mother, who has just assured him of her affection, and she hits him hard as a consequence. The parents' love for the Mouseman seems to be linked to the fulfilment of expectations. In his home the dominant atmosphere is oppressive; one of isolation and threat, subliminal and open aggression, desolation, constant watching and disdain, hypocrisy and false promises. Someone who grows up as his parents' prisoner in this way will inevitably remain a stranger among others. Or are the parents holding the Mouseman captive because he has always been different, because the unknown, whatever deviates from the norm, needs to be kept hidden? In Nauderer's photos, the Mouseman remains an outsider as well, an observer of others' lives from the outside, someone they pay no attention to, even when he is right among them. And he appears in places that have been abandoned already by these others. The Mouseman as one who always arrives too late, or is left on his own. Or are the photos perhaps merely projections of the Mouseman's longing for human society, and in reality he has never been able to escape from his imprisonment? Is he a prisoner of his parents at all, or possibly of himself?
 
Herbert Nauderer's film “parasite island” draws a dismal picture of family life. The work's mysterious multiple levels, its often striking divergence of language and behaviour, its surreal elements, and its narrative form permeated by breaks mean that it invites a psychologizing interpretation, one examining human conflicts, troubled communication and speechlessness, the parent-child relationship, how society relates to the outsider. But Nauderer is not concerned to represent concrete individuals; the figures point beyond themselves. But above all, Nauderer's mysterious, merely suggestive pictorial world is open to the viewer's projections, which also throw him back upon himself. It is characteristic of Nauderer's film work that he has transposed his refusal to be unambiguous and his narrative openness from the drawings and photos to the film medium. Nauderer suggests moods, he creates disquiet by playing with our expectations and conditioned reactions to specific images and courses of action. And so we certainly follow a narrative, but repeatedly and just before clarity emerges, before we assume the separate strands will come together into a wider context, the narrative turns a corner and images appear and words are spoken, which deny us the completion of a coherent story. And so “parasite island” may allow us to see deep into the human soul, but the existence of the Mouseman remains as mysterious as ever. As mysterious as we frequently are ourselves.

Rasmus Kleine (Kallmann-Museum), Ismaning